von Lisa Janisch, Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe Graubünden
Menschen mit HIV können heute leben und arbeiten wie alle anderen Menschen auch. Ob im Job, in der Partnerschaft oder in der Freizeit: Bei rechtzeitiger Diagnose und Therapie muss HIV heute keine Einschränkungen mehr nach sich ziehen. Menschen mit HIV können darum jeden Beruf ausüben. Sie sind genauso leistungsfähig wie andere Menschen. Eine HIV-Übertragung im Arbeitsalltag ist ausgeschlossen, weil HIV unter erfolgreicher Therapie generell nicht mehr übertragbar ist. HIV-positive Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Kolleginnen und Kollegen wie alle anderen.
Trotzdem erleben HIV-positive Menschen immer wieder Benachteiligungen – von abschätzigen und verletzenden Bemerkungen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Vorgesetzte fürchten manchmal, HIV-positive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wären den Anforderungen des Jobs nicht gewachsen. Diese Sorge ist unbegründet, denn HIV verändert weder Talent noch Fähigkeiten. Andere wiederum fürchten bei Bekanntwerden Unruhe in der Belegschaft oder Vorbehalte bei der Kundschaft. HIV-Tests bei der Einstellung oder betriebsärztliche Untersuchungen sind jedoch diskriminierend und verboten. Sie stigmatisieren, auch dann, wenn sich jemand gegen den Test entscheidet. Ebenso sind freiwillige Tests nicht akzeptabel. Der HIV-Status ist für berufliche Tätigkeiten nicht relevant.
Aber wie kommt es zu Diskriminierungen wie Entlassungen und Nicht-Anstellungen? Abweichungen von vorherrschenden Normen verunsichern. So werden Arbeitssuchende z. B. wegen HIV, aber auch bezüglich ihrer sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität oder weil sie vorher sexuelle Dienstleistungen angeboten haben als «befremdlich» wahrgenommen.
Weiter stecken hinter Diskriminierungen und beruflichen Benachteiligungen häufig irrationale Ängste vor der Übertragung des HI-Virus und allgemeine Vorurteile gegenüber Arbeitskolleginnen und -kollegen mit HIV. Wissen und das direkte Gespräch können Bedenken diesbezüglich ausräumen.
Diskriminierungen aller Art verletzen die Menschenwürde und sind für die Betroffenen fatal. Sie beeinträchtigen ihre Gesundheit, ihre Vitalität und Lebensfreude und können auch das Suizidrisiko erhöhen. Die Angst vor Zurückweisung kann zudem Menschen von einem HIV-Test abhalten, mit der Folge, dass sie keine Therapie erhalten. Weiter können Demütigungen zu psychischen Belastungen führen, Ängste fördern und schlussendlich sowohl das Unternehmen wie Mitarbeitende schwächen. Die zerstörerischen Folgen von Diskriminierung reichen demnach weit über das Arbeitsumfeld hinaus.
Um Demütigungen und Benachteiligungen wirksam zu bekämpfen, reicht der Rechtsschutz in der Schweiz nicht aus. Die Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzes würde Abhilfe schaffen, ein solches liegt jedoch in weiter Ferne. Aufklärungskampagnen und Schulungen können vorerst Vorurteile abbauen. Dank verschiedener Beratungsangebote erhalten Betroffene Unterstützung, um sich auch rechtlich gegen Diskriminierung wehren zu können. Weiter werden Unternehmen unterstützt, welche mit aktuellen Informationen Ängste abbauen und eine Kultur des Respekts vorleben und etablieren.
Arbeitgebende haben die Aufgabe, die Menschenwürde ihrer Mitarbeitenden zu schützen, indem sie Diskriminierungen verhindern, solche stoppen oder ahnden und mit Fakten aufklären.
«Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern verfährt.» Diese Aussage machte Gustav Heinemann als Bundespräsident der BRD im letzten Jahrhundert. Und sie gilt noch heute: Gesellschaften mit wenig Stigmatisierung und Diskriminierung sind gesündere Gesellschaften. Der Schutz von verletzlichen Gruppen ist immer auch ein Beitrag an die Gesundheit aller. Gewürdigte Verschiedenheit ist auch ein Katalysator für Entwicklung.
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