Touristische Arbeitsmarktszenarien: Zwischen Automatisierung und Sinnsuche
Veröffentlicht am 17.11.2025
In vielen Hotels ist die Rezeption leerer als die Lobby, und in der Gastronomie bleiben Küchen kalt – nicht wegen fehlender Gäste, sondern fehlender Mitarbeitender. Das ist keine kurzfristige Krise, sondern ein Hinweis auf tiefgreifende Veränderungen. Der Arbeitskräftemangel im Tourismus ist ein Symptom einer sich wandelnden Arbeitswelt. von Prof. Dr. Jan Mosedale
Seit Jahren kämpfen Betriebe um Personal. Die Ursachen liegen jedoch tiefer als kurzfristige Engpässe oder pandemiebedingte Nachwirkungen: Sie reichen bis in die Grundlagen unseres Verständnisses von Arbeit. Mehrere Entwicklungen greifen ineinander und verändern den Arbeitsmarkt grundlegend.
Der demografische Wandel führt dazu, dass weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten, während viele erfahrene Fachkräfte in Rente gehen. Gleichzeitig verändert sich, getrieben durch gesellschaftliche Werte, die Bedeutung von Arbeit: Menschen suchen Sinn, Flexibilität und Entwicklung statt Hierarchie und Kontrolle.
Zudem verschärft der globale Wettbewerb um Talente die Situation. Mobilität, internationale Plattformen und neue Beschäftigungsformen eröffnen Chancen, gleichzeitig steigt der Wettbewerb um qualifizierte Kräfte. Auch der technologische Wandel spielt eine zentrale Rolle: Automatisierung, künstliche Intelligenz und digitale Systeme verändern Aufgabenprofile und Anforderungen an Kompetenzen. Der Mensch wird nicht ersetzt, aber seine Rolle verändert sich.
Diese Entwicklungen sind nicht vollständig vorhersehbar. Es ist unsicher, wie sich zentrale Schlüsselfaktoren künftig entfalten werden. Genau hier setzt Szenariodenken an: Es hilft, nicht von einer einzigen Prognose auszugehen, sondern unterschiedliche Zukunftsmöglichkeiten zu betrachten.
Mögliche Szenarien für den Arbeitsmarkt
1. Automatisierter Komfort
Routineaufgaben wie Check-in, Reinigung oder Buchungen übernimmt die Technik. Technologie ersetzt nicht nur Arbeitskraft, sondern schafft neue Rollen in Datenanalyse, Wartung oder digitalem Service. Die Produktivität steigt; die Distanz zwischen Gast und Gastgeber auch.
2. Menschenzentrierter Tourismus
Gastfreundschaft wird zum zentralen Wert. Emotionale Intelligenz und persönliche Begegnung sind das Kapital. Betriebe investieren in Arbeitsklima, Weiterbildung und Sinn und gewinnen dadurch Mitarbeitende und Gäste.
3. Flexible Netzwerk-Arbeit
Bei Tätigkeiten wie Marketing, Revenue Management oder Erlebnisgestaltung wird Arbeit zunehmend projektbasiert, hybrid oder ortsunabhängig. Digitale Plattformen vermitteln Fachkräfte auf Abruf. Bei klassischen Gästekontakt- und Servicejobs bleibt Präsenz entscheidend, doch digitale Tools ermöglichen mehr Flexibilität.
4. Sorge- und Gemeinwohlorientierte Arbeit
Tourismus wird lokaler, nachhaltiger und gesellschaftlich relevanter. Arbeit dient nicht nur Gästen, sondern auch dem Ort. Neue Rollen entstehen, etwa «Community Hosts» oder «Regenerationsmanager:innen». Arbeit wird stärker sinnorientiert und weniger transaktional.
Diese Szenarien sind keine Prognosen, sondern Möglichkeitsräume. Sie machen sichtbar, wie technologische, soziale und ökologische Faktoren Arbeitswelten prägen können und welche Unsicherheiten Unternehmen erwarten. Sie zeigen, dass es nicht «den einen Weg» gibt, sondern verschiedene Möglichkeiten, wie sich Arbeit im Tourismus entwickeln kann.
Wer heute Personalstrategien plant, sollte diese Möglichkeiten berücksichtigen und nicht nur auf die nächste Saison, sondern auf die kommenden zehn Jahre blicken. Politik, Bildung und Arbeitgebende müssen Rahmenbedingungen schaffen, die Arbeitskräfte fördern und die Branche zukunftsfähig machen. Wie wir heute Arbeitsbedingungen, Lernumfelder und Technologien gestalten, entscheidet über die Zukunft des touristischen Arbeitsmarkts.
* Prof. Dr. Jan Mosedale ist Studienleiter des Master of Science in Business Administration, Studienrichtung Tourism and Change und Co-Forschungsleiter amInstitut für Tourismus und Freizeit der Fachhochschule Graubünden.
Das Institut für Tourismus und Freizeit (ITF) bietet innovative Studienangebote, praxisnahe Weiterbildungen und angewandte Forschung zu digitalen Transformationen und nachhaltigen Lebensräumen an.